Die Inversion, die Umkehrung, begegnet bereits früh im Werk der 1972 in Villach geborenen Künstlerin Larissa Tomassetti. Die künstlerischen Anfänge von LT sind in die 1990er-Jahre zu datieren. Die erste Negativzeichnung, ein Selbstporträt, entstand 2004. Der kunstgeschichtlich geschulte Betrachter wird dabei an Parmigianinos Selbstporträt im konvexen Spiegel (1524) denken.
In der Serie IVI InVersI folgte neben der zeichnerischen auch die malerische Umsetzung des Themas, wobei LT hier von fotorealistischen Darstellungen ausgeht. Dabei arbeitet sie gerne mit Farbumkehrungen, d. h. sie setzt die Komplementärfarben so ein, dass das Motiv verfremdet wird. Durch die Anwendung der Inversion wirken die Darstellungen surreal.
Sowohl die Negativzeichnungen als auch die Inversmalereien bilden außerdem die Grundlage für Schwarzweißfotografien, d. h. es wird ein Fotoabzug des Bildes hergestellt und somit entsteht ein Foto, das nicht der herkömmlichen Definition von Fotografie entspricht: denn das Foto ist Synonym für die bildliche Erfassung der Welt, wie sie uns im Alltag erscheint. LT hält mit ihren Fotos eine umgekehrte Welt fest, die es so gar nicht gibt, genau genommen erzeugt sie die Illusion von einem Foto. Diese Bilder können daher als eine Meta-Inversion bezeichnet werden: die erste Inversion ist eine realistische zeichnerische oder malerische Darstellung unter Anwendung der Farbumkehrung. Im zweiten Schritt wird die Existenz der so erzeugten anderen Realität mittels Fototechnik dokumentiert, wodurch noch einmal eine Verfremdung geschieht: die Fotoabzüge auf Glas geben den Darstellungen eine besondere Tiefe und durch den Wechsel des Trägermaterials von Papier bzw. Leinwand zu Glas entsteht ein geheimnisvoller Glanz.
Die Serie DS Dynamic Stills beinhaltet Arbeiten in der klassischen Technik Öl auf Leinwand. In starker Malbewegung entstandene wilde Farbwirbel sorgen hier für Dynamik und lassen teilweise auch an Turners Wolkenstürme denken – hier enden die traditionellen Referenzen allerdings schon. Die Künstlerin legt vertikale Farbstreifen über die Fläche, rhythmisiert diese damit und bremst so auch die dynamische Bewegung – was deren Schwung nur umso deutlicher macht.
Im Gemeindeamt von Malta in Kärnten befindet sich eine großformatige Arbeit aus dieser Serie, die 2010 mit dem ersten Preis für einen Kunst-am-Bau-Wettbewerb ausgezeichnet wurde. Hier ist LT einen Schritt weiter gegangen, sie hat die Streifen auch aus dem Bild herausgenommen und als transparente „Stills“ auf einer Glasfläche davor angebracht, was die Wirkung noch verstärkt. Zusätzlich hat die Bewegung des Betrachters einen Einfluss auf die Rezeption des Bildes.
In der Serie LL LaLinea wendet sich LT der abstrakten Malerei zu – doch es ist keine reine Abstraktion, auch hier kommen verfremdete Realitäten ins visuelle Spiel. In jedem der Bilder wird eine waagrechte Linie eingefügt, die unseren Sehgewohnheiten zufolge meist als Horizont wahrgenommen wird. So bringt die Künstlerin ein Element aus der realistischen Malerei in die Abstraktion ein und triggert damit Assoziationen – denn der vermeintliche Horizont lädt unweigerlich zu Gedankenspielereien ein.
In einer Ausstellung dieser Serie ging LT einen Schritt weiter und zog an der Wand eine Bleistiftlinie in Augenhöhe, an der alle Bilder ausgerichtet wurden, d. h. die Linien in den Bildern und die Linie an der Wand schlossen jeweils aneinander an. Damit kam wieder ein Meta-Element ins Spiel, eine imaginäre Horizontlinie, die alle in der Ausstellung gezeigten „Horizonte“ kontrollierte.
LT verwendet gerne Glas in ihren Arbeiten – doch in der Serie RX RefleX schuf sie Spiegelungen ohne Verwendung von Glas, sondern rein durch zeichentechnisches Können. 2016 kuratierte Willi Magnet von der Galerie Magnet (Völkermarkt, Klagenfurt, Wien) die Ausstellung „lobisser.vergessen“ in seiner Galerie im Palais Fugger in Klagenfurt. LT zerschnitt einen Original-Holzschnitt von Switbert Lobisser (1878-1943) und klebte jede der beiden Hälften jeweils auf ein Blatt Papier. Die fehlende Hälfte ergänzte sie mit dem Spiegelbild des Holzdrucks, ausgeführt in Tuschzeichnung. Der so entstehende Effekt erinnert an Kaleidoskop-Bilder und hat auch eine subtile philosophische Aussage: hier wird der Teil einer realistischen Darstellung mit seinem genauen Spiegelbild ergänzt – und es entsteht etwas Skurriles, ein neues Ganzes, doch die dargestellten Personen sind entstellt, verzerrt, wirken missgebildet. Das kann einerseits als philosophischer Hinweis darauf verstanden werden, dass sich zwei gleiche, gespiegelte Hälften nicht zu einem harmonischen Ganzen ergänzen, wir brauchen Spannungsfelder durch Gegensätze wie Männlich – Weiblich/Yin – Yang, Positiv – Negativ. Andererseits können diese entstellten Figuren auch als Anspielung darauf verstanden werden, dass im Nationalsozialismus Menschen mit „anderem“ Äußeren gebrandmarkt und verfolgt wurden. Diese dunkle Seite der Beschäftigung mit der Physiognomie hatte ihre Wurzeln bereits im 19. Jahrhundert und erfuhr unter dem NS-Regime eine Steigerung furchtbaren Ausmaßes. Die verfremdeten Lobisser-Holzschnitte der Künstlerin können somit auch als spätes Gedenken an die Opfer dieser finsteren Zeit verstanden werden.
Wie in den übrigen Bildserien entsteht hier eine andere Realität, dieses Thema zieht sich als roter Faden durch das Werk von LT – was uns auf den roten Punkt bringt:
Die Serie RP RedPoint wurde bereits in den 1990er-Jahren initiiert und ist ganz dem namensgebenden roten Punkt gewidmet, der für LT das „stärkste Symbol“ ist. Der Betrachter kann das in den Bildern dieser Serie nachvollziehen, der rote Punkt, der übrigens aufgrund der auch hier angewandten Inversion nicht immer rot ist, dominiert die Komposition in jedem Fall: manchmal wirkt er statisch wie eine rote Sonne, dann wieder wie eine verspielte Kugel, die jederzeit aus dem Bild rollen kann. Aus diesem Motiv entwickelten sich weitere Serien, darunter RPDiary, ein kalenderartiges gezeichnetes Tagebuch, das mit einem von der Künstlerin entwickelten Nummerierungssystem versehen ist.
Larissa Tomassetti lässt ihrem immensen künstlerischen Schaffensdrang und Ideenreichtum an zwei Atelierstandorten freien Lauf: Im Schauraum in der Kirchgasse in Gmünd, ihrem Geburtshaus, befindet sich die Installation "RP a/notte/fonda", die auf ihre ursprünglichen Wurzeln verweist. Im Haus der künstlerischen Begegnung in Villach-St. Martin, das der Künstlerin von der Stadt Villach zur Verfügung gestellt wird, entstehen in erster Linie großformatige, raumgreifende Arbeiten.
Die Malerei an sich fasziniert mich durch das Spannungsfeld zwischen Farbflächen und freien Formen, die auf der Leinwand miteinander kommunizieren und verschiedene Assoziationen im Betrachter auslösen. (LT)